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Zwei Freunde berichten, wie an- als Christ, als guter Mensch, als Nicht mehr linear zu denken, son-
dere Kulturen Selbstverständ- guter Familienvater habe? dern zirkulär.
lichkeiten wieder aufleuchten Als ich vor fast 5 Jahren in die
lassen. Schweiz zog, um dort zu leben Was ich als eine besondere Heraus-
und zu arbeiten, erlebte ich einen forderung erlebe, ist der Mangel
Besteht mein Selbstverständnis Unterbrechung verschiedenster an sauberem Wasser. Es ist nicht
aus Selbstverständlichkeiten? kleiner und großer Selbstverständ- selbstverständlich, aus der Leitung
«Das ist doch selbstverständlich», lichkeiten. Hier weiterlesen: erstens Wasser zu bekommen und
«selbstverständlich mache ich das zweitens gleich trinken zu können.
gerne» oder ähnliche Sätze höre ich So muss das Wasser erst gefiltert
manchmal sagen. werden, bevor es Trinkwasser wer-
Warum ist etwas selbstverständlich den kann. Da erlebe ich eine tiefe
für mich oder andere? Das fragte Dankbarkeit, in Deutschland mit
ich mich erst, als mir Unerwartetes gutem Wasser versorgt zu sein.
begegnete. Auch ist es nicht selbstverständlich,
Als plötzlich nicht mehr galt, was in Frieden leben zu können, in
sich von selbst versteht, es nicht Ruhe zu schlafen, Sicherheit zu er-
mehr in meinem Leben lief, wie leben und sich auf die Ordnungs-
ich es natürlich (englisch natural= hüter verlassen zu können. Auch
natürlich, selbstverständlich) er- Andreas Klein, Betriebsleiter eines ist das Erleben der vier Jahreszeiten
wartet hätte. Wohnheimes für Menschen mit einer nicht selbstverständlich, wenn es
Selbstverständlich gehe ich mit psychischen oder Suchterkrankung nur Trocken- und Regenzeiten im
einem kleinen Infekt zur Arbeit Seit 2014 in Chur, Schweiz Wechsel gibt.
- dann zieht mich der Arzt mit Hier weiterlesen:
40,5°C Fieber aus dem Verkehr.
Selbstredend bin ich immer leis-
tungsfähig und schnell wieder auf Was ist schon selbstverständ-
dem Posten - dann falle ich 6 Mo- lich?
nate wegen einer Erkrankung mit Das Leben in einer anderen Kul-
drei Operationen aus. Freilich ha- tur stellt vieles auf den Kopf. So ist
ben wir uns eine Ehe «bis das der es nicht mehr selbstverständlich in
Tod uns scheidet» versprochen - dem kulturellen Kontext meiner
und nach 3 Jahrzehnten scheidet Gastkultur, dass eine Veranstal-
der Richter. tung um 10 Uhr anfängt, wenn
Woher habe ich eigentlich den das so gesagt wird, sondern es ist
Eindruck, die Prägung, dass etwas eine Selbstverständlichkeit, erst
selbstverständlich ist? Haben es mal eine Sache zu beenden, den Judith Finkbeiner, Missionarin mit
mir Eltern, Grosseltern, Umfeld so Tee mit dem Nachbarn zu trinken, dem Deutschen Missionsärzte Team
vorgelebt? Entsteht diese Gewiss- bis ich mich aufmache, um etwas (DMÄT) und tätig in der psychologi-
heit aus dem Selbstverständnis, anderes zu tun. Das hat mit dem schen Begleitung von Missionaren in
dem Selbstbild, dass ich von mir anderen Zeitverständnis zu tun. Zentral- und Ostafrika
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